Das Bundesfamilienministerium hat die Webseite pausentaste.de für pflegende Kinder und Jugendliche ins Leben gerufen. Grundsätzlich ist es gut, dass das Problem erkannt und in Angriff genommen wurde. Die Webseite ist auch sicher nett gemacht, übersichtlich und modern. Es finden sich dort Geschichten von Young Carers: So erzählt Rike, wie sie von der Schulpflicht befreit wurde, um sich um ihre krebskranke Mutter zu kümmern. Oder es wird auf einen Artikel in der FAZ verlinkt, in dem Tabitha über die Pflege ihrer an Multipler Sklerose erkrankten Mutter berichtet. Außerdem gibt es Ratgeberartikel wie „Sieben smarte Tricks wie du den Kopf freibekommst“ oder „Wie Krebszellen entstehen“ und jede Menge Telefonnummern und Kontaktdaten zu Ansprechpartnern. Aber hilft das Onlineangebot den Betroffenen wirklich? Ich sehe da einige Probleme.
Young Carers haben keine Zeit
Young Carers sind neben der Schule bis zu 20 Stunden pro Woche damit beschäftigt, ihre Eltern zu pflegen. Sie können nicht stundenlang eine Internetseite nach passenden Ansprechpartnern durchforsten und überlegen, ob sie mit anderen Betroffenen lieber zum Tanzkurs oder zur Gesprächsgruppe gehen möchten. Oder entscheiden, ob nun die „Nummer gegen Kummer“ oder das Kinder- und Jugendtelefon die bessere Anlaufstelle wäre. Im Grunde führt jeder Klick auf pausentaste.de zu weiteren Infoseiten, wo man wiederum viele Telefonnummern findet oder Suchfunktionen, mit denen man Projekte in seiner Nähe auflisten lassen kann. Viele, viele Klicks, Überforderung mit der Menge an Angeboten, die dann alle doch nur so halb passen, weil sie zu weit weg sind oder sich mit anderen Krankheiten als denen der eigenen Eltern beschäftigen – und immer noch keine konkrete Hilfe.
Auch die Auszeiten-Tipps im oben genannten Ratgeberartikel sind aus Sicht der Betroffenen wenig hilfreich. Tabithas größter Wunsch ist es, nur ein einziges Mal drei, vier Stunden frei zu haben, um shoppen gehen zu können. Hat sie aber nicht. Sie muss sich von morgens bis abends um ihre Eltern kümmern. Wie soll sie da regelmäßig joggen? Oder eine Gesprächsgruppe für Young Carers besuchen? Nächster Tipp im Artikel: Sich in Ruhe mit einer Tasse Kakao hinsetzen. Der Alltag pflegender Jugendlicher sieht nun aber so aus, dass sie Tag und Nacht ständig damit rechnen müssen, von den kranken Eltern gerufen zu werden – sei es, um sie zur Toilette zu begleiten oder einen heruntergefallenen Löffel aufzuheben. Sie sind permanent in „Hab acht“-Stellung, was von inzwischen erwachsenen Betroffenen rückblickend als einer der Hauptbelastungsfaktoren beschrieben wird. Und wenn man ständig mit einer Unterbrechung der Pause rechnen muss, hilft der Kakao auch nicht dabei, sich zu entspannen.
Jeder Anruf bei einer Hilfestelle kostet Überwindung
Die Macher von pausentaste.de haben sich das vielleicht so vorgestellt, dass der Jugendliche mehrere Pflegedienste durchtelefoniert, mal bei dieser und mal bei jener Gesprächsgruppe reinschnuppert, bis er ein Projekt gefunden hat, in dem er sich wohlfühlt. Und sich dann vielleicht noch selbstständig bei einer Jugendfreizeit für Young Carers anmeldet und derweil für die anderweitige Unterbringung der Eltern sorgt. Was sie nicht bedenken: Jeder Anruf bei einem Unterstützungsangebot kostet einen Young Carer wahnsinnig viel Überwindung. Er wird nicht strukturiert Angebote durchtelefonieren, um sich einen Überblick über die Möglichkeiten zu verschaffen. Er weiß nicht, in welcher Reihenfolge man sich sinnvollerweise um die Dinge kümmert. Sein Anruf, wenn er den denn tätigt, wird ein verzweifelter Hilferuf bei der erstbesten Stelle sein, in der Hoffnung, dort umfassende Hilfe zu bekommen. Und wenn der erste Anruf scheitert, wenn also zum Beispiel – wie bei Tabitha – der Pflegedienst keine Kapazitäten frei hat, wenn die Versicherung für eine Haushaltshilfe unzählige Formulare ausgefüllt haben will, wenn der Therapieplatz erst in vier Monaten frei wird, wenn der Jugendliche feststellt, dass für verschiedene Hilfeleistungen diverse Stellen zuständig sind, wird er sofort aufgeben und es nie wieder woanders versuchen. Meist sind die Personen am anderen Ende der Leitung (Pflegedienste, Versicherungen & Co.) auch nicht darauf eingestellt, dass ein Jugendlicher anruft, der eine ganz andere Ansprache braucht als erwachsene Angehörige. Ich habe das so oft von Betroffenen gehört, diese Resignation: „Bringt alles nichts, es gibt sowieso keine Hilfe für mich, ich muss das alleine stemmen.“
Young Carers haben ganz spezifische Sorgen
Es stellt sich auch die Frage, ob die „Nummer gegen Kummer“ oder andere allgemeine Beratungsstellen einem Young Carer wirklich helfen können. Dort rufen Minderjährige mit so vielen verschiedenen Problemen an, vom Mobbing über Selbstmordgedanken bis hin zu Drogenproblemen – die Mitarbeiter und Ehrenamtlichen können sich gar nicht mit jedem Problem konkret auskennen. Young Carers haben aber ganz spezifische Hilfebedarfe, die nur in einer bestimmten Reihenfolge Sinn ergeben (siehe unten). Natürlich ist es gut, wenn erstmal jemand zuhört, aber wie oben schon gesagt, rufen pflegende Jugendliche mangels Zeit meist höchstens ein einziges Mal irgendwo an. Und dieser Anruf ist mit der Nummer gegen Kummer dann schon erfolgt. Dort wieder weitere Telefonnummern von Therapeuten, Pflegediensten oder Selbsthilfegruppen genannt zu bekommen, führt kein bisschen weiter als die Webseite.
Jugendliche nutzen keine Webseiten
Um Jugendliche zu erreichen, müssen Unterstützungsangebote in den sozialen Netzwerken stattfinden und beworben werden. Bei pausentaste.de ist das nicht der Fall.
Die Lösung: Kurzfristige Entlastung, mittelfristige therapeutische Unterstützung
Wenn sich schon die Bundesregierung von höchster Stelle an eine Lösung macht, dann bitte richtig: Pflegende Kinder und Jugendliche brauchen letztendlich keine Webseite. Sie brauchen drei Dinge:
- Kurzfristig: Sofortige Entlastung im Alltag. Es müsste eine einzige deutschlandweite Nummer geben, die flächendeckend beworben wird und bei der Young Carers anrufen oder sich per WhatsApp melden können. Sobald das geschieht, müsste das Sozialsystem dafür sorgen, dass ein Mitarbeiter eines nahegelegenen Trägers der Familienhilfe zu der Familie fährt und die Situation analysiert. Sämtliche Hilfemöglichkeiten sollten beantragt und die Anträge mit einem gesonderten Verfahren für höchste Dringlichkeit durchgeführt werden. Weitere Wege, um Young Carers, die sich nicht bei der Notrufnummer melden, zu identifizieren, sollten entwickelt werden – im Rahmen des Entlassungsmanagements, der häuslichen Pflege, der therapeutischen Begleitung Schwerkranker.
- Mittelfristig benötigen Young Carers therapeutische Unterstützung, um ihre Situation und Erfahrungen zu verarbeiten. Diese können die Jugendlichen erst wahrnehmen, wenn sie im Alltag entlastet sind und das Haus verlassen können, ohne sich sorgen um ihren erkrankten Elternteil machen zu müssen. Auch brauchen sie Zuspruch, um sich überhaupt zu trauen und die Zeit zu nehmen, zur Therapie oder Selbsthilfegruppe zu gehen. Denn sie haben gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen, und erlauben sich oft keine vermeintlich „selbstsüchtigen“ Auszeiten. Meist benötigen die Jugendlichen mittelfristig auch sozialpädagogische Unterstützung beim Übergang von der Schule in den Beruf, da sie diese Unterstützung nicht von den Eltern bekommen. Es besteht die Gefahr, dass sie nahtlos zu Young Adult Carers werden und, wenn die Eltern irgendwann versterben, ohne Ausbildung und Lebensinhalt zurückbleiben.
- Langfristig braucht es gesetzliche Regelungen, die ganz deutlich festlegen, dass es einem Minderjährigen nicht zuzumuten ist, seine Eltern zu pflegen oder den Haushalt zu führen oder Geschwister zu erziehen, weil die Eltern zu krank dafür sind. Dies sollte an konkreten Kriterien festgemacht und messbar gemacht werden (Dauer des täglichen Einsatzes, Art der Tätigkeiten). Wenn die Kriterien erfüllt sind, sollte ein gesetzlicher Anspruch auf Hilfeleistungen bestehen. Es sollte dabei aber darauf geachtet und es auch so kommuniziert werden, dass die Hilfe wenn irgend möglich in der Familie stattfindet und weder die Kinder vom Jugendamt sofort aus der Familie geholt, noch die Eltern ohne weitere Prüfung in ein Pflegeheim oder Hospiz verlegt werden. Oft besteht ein dringender Wunsch aller Beteiligten, es gemeinsam zu Hause zu schaffen – und eine große Angst, auseinandergerissen zu werden. Auch das ist ein Grund, aus dem das Problem der Young Carers so lange unsichtbar geblieben ist. Dieser Angst muss professionell begegnet werden – und Webseiten allein, die bei genauerem Hinsehen nichts weiter tun als bestehende Kummernummern und Links zu Medienberichten über Betroffene aufzulisten, werden daran nichts ändern.